von Sibylle
Als hätten wir es im letzten Moment noch kapiert, gerade bevor es unmöglich wurde, – die Sache mit der Berührung. Kurz vor dem Lockdown, im Februar 2020, hatten wir einen temporären Nachtclub eröffnet, in dem es um heterasexuelles Begehren ging: Queens. Der Heteraclub. Hier wurden heterasexuelle Frauen in ihrem Begehren bestärkt: mit Striptease & Stories über Orgasmen und gebrochene Herzen, mit Slow & Dirty Dancing und Küssen durch Frischhaltefolie. In einer Reihe von Séparés wurden One-on-One-Performances angeboten, in denen Performer intime Begegnungen inszenierten. Und das alles auf St. Pauli. Patriarchat und Prostitution, ein lautes Thema. Doch was im Club passierte, war viel weniger spektakulär und zugleih viel aufregender als der vermeintliche Skandal im Sperrbezirk. Schon im Probenprozess wurde deutlich: Was wir vor allem üben mussten, war das Anfassen. Wie umgehen mit der großen Verletzlichkeit aller, um deren Haut und Haar es dabei ging? Wie schafft man mit künstlerischen Mitteln eine Situation, in der Anfassen und Angefasstwerden möglich sind und all die Gefühle, die das auslöst, Platz haben?
Vorbilder in der Performancekunst haben wir dafür kaum gefunden. Mit der Berührung kam stattdessen immer wieder die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst ins Spiel, im Extrem: „Wenn es mit Anfassen ist, kann es keine Kunst sein.“ Tatsächlich hat Kunst keine Expertise, keine Ästhetik der Berührung ausgebildet. Der Tastsinn wird gegenüber dem Hören und Sehen weit seltener angesprochen. Obwohl es doch immer darum geht, Menschen zu berühren, nur nie wirklich. Berührung im engeren Sinne ist im Bereich des Privaten, im Sex Work, im Medizinischen und Therapeutischen gebunden.
Im Heteraclub wurde uns klar, was daran falsch ist: Wer keine Beziehung hat, sich auf dem Dating-Markt nicht wohlfühlt, keinen Zugang zu teuren Behandlungen hat, wird kaum berührt und kann darüber nicht einmal sprechen. Zudem haben viele Menschen negative Erfahrungen mit heteronormativer Gewalt, die durch Berührung getriggert werden können. Im Heteraclub entstand ein Safe Space, in dem sich die Tür zu einer Kunst der Berührung ein Stückchen geöffnet hat. Dahinter zeigte sich ein solches Bedürfnis nach neuen Formen des Berührens und den Austausch darüber, dass es uns alle überwältigt hat.
Dann kam der Lockdown, die Isolation, die Distanz. Und wenn daran etwas Gutes ist, dann dass es nun plötzlich viel mehr Leute gibt, die von der Verknappung der Berührung betroffen sind. Nun, so scheint es, kann man ohne Scham darüber reden, wie wichtig Berührung ist. Im Lockdown lernen wir: Menschen, die nicht berührt werden, sind gestresster, weniger selbstbewusst, haben ein höheres Risiko, an Autoimmunkrankheiten, Depressionen und Störungen wie Anorexie zu erkranken; sie können sogar eine Gefühlsblindheit ausbilden, die es ihnen erschwert, Gefühle zu erkennen und auszudrücken.
Nicht vergessen dürfen wir dabei, dass die Mehrheit jetzt etwas erlebt, was viele schon lange erdulden müssen. Auch ganz ohne Distanzregeln leben viele von uns ohne Berührung. Selten war ein Auftrag an die Kunst so klar wie dieser, so klar wie jetzt: Wir müssen Berührung als performative Praxis endlich ernst nehmen und im Rahmen von Kunst thematisierbar und erfahrbar zu machen – persönlich und gesellschaftlich. Wir müssen uns vorbereiten, denn das Defizit, um das es hier geht, ist groß und wächst zur Zeit täglich weiter.
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